Die Macht der Gier ist ein spannender Ostfrieslandkrimi

… Hinni unterhält sich weiter mit Tom, aber aus den Augenwinkeln beobachtet er, wie Lena versucht, näher an den See zu kommen. Eine etwa zwanzig Meter breite Moorfläche trennt den Bohlenweg vom Wasser. Vorsichtig setzt sie den Fuß auf eine kleine, mit Wollgras bewachsene Fläche und prüft die Belastbarkeit. Sie scheint ihr Gewicht zu tragen und Lena zieht den anderen Fuß nach.
Wenn sie schon so einen Blödsinn macht, dann hätte sie sich wenigstens ordentliche Stiefel anziehen sollen und nicht diese allgegenwärtigen Sneakers, denkt Hinni. Er sagt aber nichts, in seinen Augen ist Lena erwachsen – als Lehrerin vielleicht sogar intelligent, aber nicht besonders klug. Er achtet deshalb weiter auf ihre Aktionen.
Die nächste bewachsene Fläche, die wie eine winzige Insel aus dem Moorwasser ragt, ist einen halben Meter entfernt, auch die scheint Lena zu tragen. Diese kleinen Pflanzeninseln ziehen sich wie eine Kette bis zu dem Seeufer, offensichtlich will Lena dort hin.
»Komm zurück, Lena«, ruft Hinni. »Das geht nicht gut.«
Lena winkt ab, konzentriert schaut sie nach vorne und auf das Wasser des Sees.
Ein weiteres Pflanzenbüschel trägt sie auch, dann erreicht sie das nächste und noch eines. Etwas hilflos steht sie schließlich drauf und scheint zu überlegen, wie die weiteren Schritte aussehen könnten. Die nächste kleine Insel ist mehr als eine Schrittlänge entfernt.
Lena setzt entschlossen zum Sprung an, ihr rechter Fuß erreicht auch die Pflanzendecke, aber er sinkt durch. Darunter ist nichts, das ihr Gewicht tragen könnte. Sie fällt nach vorne und liegt bäuchlings im Moor.
»Scheiße!«, ruft sie und versucht sich aufzurichten. Vergeblich, sie findet nirgends einen festen Halt.
Hinni und Tom sind aufgesprungen, ihr Puls rast, sie stehen an der Kante des Bohlenwegs und suchen verzweifelt nach einer Möglichkeit, ihr zu helfen.
»Bleib liegen«, ruft Hinni ihr zu. »Streck die Beine aus. Wenn du aufstehst, sinkst du immer tiefer ein. Versuch, dich am Gras oder einer Pflanze festzuhalten.«
»Das ist Moor und Sumpf«, ergänzt Tom. »Mach dich so breit wie möglich und versuch, dich an den Gräsern nach vorne zu ziehen. Keine Panik, du kommst da raus, wir helfen dir.«
Hinni sucht nach Gegenständen, die er über das Moor schieben könnte, um sie zu erreichen. Die Bohlenbretter? Sie sind zu kurz und außerdem sind sie mit soliden Nägeln befestigt. Die Bank? Die ist zu schwer und außerdem ist sie auch zu kurz. Hastig durchwühlt er seine Taschen, aber wie erwartet, hat er nicht einmal einen Tampen oder eine Leine dabei.
»Hilfe, ich sinke immer tiefer«, ruft Lena. »Nun helft mir doch, macht doch schon! Ich glaube, ich habe gerade eine Schlange gesehen.«
»Keine Panik, die Schlangen hier tun dir nichts.« Hinni versucht, möglichst ruhig zu antworten. »Wir holen dich raus.«
»Das erste und das zweite Grasbüschel, die haben sie doch getragen«, überlegt er laut, »das sollte gehen«.
Schnell zieht er seinen Anorak aus und wirft ihn über die Bank. Er legt sich auf den Bohlenweg und schiebt sich dann durch den Matsch vorsichtig über den Rand zu den Büscheln herüber.
»Deinen Anorak, schnell«, fordert er dann Tom auf. »Mach eine Rolle daraus, so lang wie möglich.«
Der kapiert sofort, streckt die beiden Ärmel der gelben Kunststoffjacke auf größtmögliche Länge aus und rollt Brust- und Rückenteil zusammen. Dann wirft er ihn direkt in Hinnis Hände.
»Nun helft mir doch«, schreit Lena schrill. Ihre Stimme drückt Panik aus, sie spürt den Griff des Moores, es zieht sie herunter, langsam, aber unaufhaltsam.
Hinni fasst einen Ärmel, er versucht, den anderen Lena zuzuwerfen.
»Das ist zu kurz«, jammert Lena, »wir brauchen ein langes, richtiges Seil.«
»Scheiße, haben wir aber nicht«, flucht Hinni leise, ruft aber laut: »Wir machen was anderes.«
Er robbt hastig zurück auf den Bohlenweg, zieht sein Hemd und die Jeans aus und knotet beides so zusammen, dass sich die größtmögliche Länge ergibt. Nur mit dem T-Shirt und seiner Unterhose bekleidet schiebt er sich wieder über das Moor und versucht Lena, das provisorische Seil zuzuwerfen.
»Scheiße, langt immer noch nicht«, flucht er. »Tom, ich brauche deine Hose und dein Hemd auch noch, mach schnell.«
»Hilfe«, schreit Lena, inzwischen in Todesangst. »Ich kann mich nicht mehr halten. Da ist nur Schlamm unter mir.«
Tom kapiert, er zieht sich aus, knotet seine Kleidung zusammen und verbindet beides mit denen von Hinni. Das sollte reichen, hofft er.
»Hilfe«, gurgelt Lena voller Panik, sie hat den Mund halb voll mit matschigem Wasser. »Scheiße, ich komme nicht an das nächste Grasbüschel heran.«
Hinni sieht, was passiert ist. Sie versuchte in ihrer Panik, weiter nach vorn zu robben und ihm entgegenzukommen. Nun liegt sie nur noch mit den Oberschenkeln und dem Unterleib auf dem weichen Grasbüschel, vorne ist aber nichts mehr, was den Oberkörper halten könnte. Ihr Kopf liegt auf der moorigen Wasserfläche, sie versucht ihn krampfhaft nach oben zu halten – aber sie findet nichts Festes, um ihre Hände zu stützen.
»Versuch zu schwimmen«, ruft Hinni. Dann sieht er nur noch, wie sie kraftlos ihren Kopf ins Wasser sinken lässt. Ein paar Luftblasen steigen auf.
»Schnell Tom, die Leine. Behalte ein Ende in deiner Hand.«
Tom wirft ihm die zusammengeknoteten Kleidungsstücke wie ein Lasso zu und Hinni robbt nach vorne, möglichst über die kleinen Pflanzeninseln. Einige verfehlt er, er muss versuchen, sich mit schnellen Schwimmbewegungen über Wasser zu halten und nach vorne zu bewegen. Schließlich ist er so weit vorangekommen, dass sein ausgestreckter Arm Lenas Kopf erreicht. Sie liegt leblos, die Arme sind seitwärts ausgestreckt.
»Oh Gott!« Hinni befürchtet das Schlimmste. Ohne Rücksicht darauf, dass es ihr weh tun könnte, greift er in ihr Haar und wickelt ein großes Büschel fest um seine Hand. Dann nimmt er das Ende der Leine, die er hinter sich hergeschleppt hat. »Los, Tom, zieh … zieh uns beide hier raus.«
Hinni versucht, näher an Lenas Kopf zu kommen und ihn über der Wasseroberfläche zu halten. Es gelingt, offenbar im letzten Moment.
Lena hustet, spuckt Wasser und ringt keuchend nach Luft. Ihr Körper zittert, entweder vor Kälte oder vor Angst. Sie kann nicht reden, aber ihre Augen füllen sich mit Tränen und schauen Hinni dankbar an. Mein Gott, war das knapp, sagen sie.
»Wir sind hier noch nicht raus«, sagt Hinni, »aber bleib ruhig. Tom wird uns herausziehen.«
»Sie lebt«, schreit er nach hinten. »Tom, nun zieh doch endlich. Wir wollen beide hier raus.«
Tom zieht an dem Behelfsseil, langsam und stetig. Er versucht, schnelle, ruckartige Bewegungen zu vermeiden, damit weder Lenas Haare aus Hinnis Hand gleiten, noch Hinni mit der anderen Hand das Seil nicht halten kann.
Lena zappelt, Hinnis Griff in ihren Haaren schmerzt. Sie versucht mit ihren Händen, seinen Arm zu fassen. Vergeblich, sie scheint zu schwach zu sein.
Langsam, zentimeterweise, so kommt es Hinni vor, rückt der Bohlenweg näher. Einige Male wird er unter Wasser gedrückt, er hält die Luft an, so lange, bis Tom ihn aus dem Wasserloch gezogen hat.
Plötzlich ist seine Hand, in der er eben noch Lenas Haare gehalten hat, leer. »Lena«, schreit er, »wo bist du?«
»Hier!« Er hört ihre Stimme hinter sich. »Warum hast du mich losgelassen?«
»Deine Haare sind mir aus der Hand geglitten, als ich unter Wasser war. Ich komme zu dir zurück.«
Hinni prüft die Lage: Er selbst ist noch zwei Meter von dem Bohlenweg entfernt, Lena befindet sich knapp hinter ihm, er kann sie aber nicht erreichen. Sie sind so kurz vor dem Ziel – und alles soll umsonst gewesen sein?
»Gib zwei Meter lose in die Leine«, ruft er in Toms Richtung. Er versucht, zu Lena zurückzurobben und dabei möglichst auf den Pflanzeninseln zu bleiben …

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